Online Vortragsreihe
Mehrsprachigkeit und Bildung in Österreich – historische und sozialwissenschaftliche Perspektiven
3.11. | 17.11. | 1.12.2020 | 19.1.202117–18:30 Uhr
wir bitten um Anmeldung zu den einzelnen Vorträgen bis spätestens am Vortag unter mehrsprachigkeit.biwi@univie.ac.at
Mehrsprachigkeit hat den Prozess der Verstaatlichung des Bildungswesens in Österreich seit Anbeginn begleitet und mitbestimmt. Entsprechend kontrovers werden in der Öffentlichkeit tagesaktuelle Debatten um Mehrsprachigkeit im Kontext von Bildung geführt. Dabei geht es unter anderem um Fragen der Verortung und Hierarchisierung von Sprachen in schulischen Curricula, ihrer Verwendung im Unterricht und in der Kommunikation zwischen verschiedenen schulischen Akteuren sowie um das Exklusionspotential, das Sprache als Differenzkonstruktion innewohnt. Hochaktuell, wenn auch alles andere als neu, ist die Diskussion um das Verhältnis von „nationalen“ Zentren zu regionalen „Peripherien“ sowie um die Förderung von nicht-dominanten Sprachen in bestimmten regionalen Kontexten und für bestimmte Gruppen.
Das Ziel dieser Vortragsreihe ist es, den Dialog zwischen der historischen und der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Mehrsprachigkeit im österreichischen Bildungswesen anzuregen und dabei besonders methodologische Fragen zu erörtern. Expert*innen aus verschiedenen Fachgebieten (Geschichtswissenschaften, Historische Soziolinguistik, Germanistik, Mehrsprachigkeitsforschung) werden der Bedeutung von Mehrsprachigkeit am Beispiel des Bildungswesens Österreichs nachgehen.
Organisator*innen Alan S. Ross, Nadja ThomaInstitut für Bildungswissenschaft, Universität Wien
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Programm
Vorträge jeweils 17–18:30 Uhr
3.11.
Mehrsprachigkeit im Habsburgischen Bildungswesen am Beispiel der galizischen Grenzstadt Brody
Börries Kuzmany
17.11.
Verankerte und gelebte Mehrsprachigkeit an den Lemberger Gymnasien 1848-1918
Stefaniya Ptashnyk
1.12.
Ethnographische Perspektiven auf die Entwicklung der zweisprachigen Schule in Kärnten. Vom Minderheitenschulwesen zur Anerkennung sprachlicher Diversität
Brigitta Busch
19.1.
Mehrsprachige Normalität in der einsprachigen Schule: Wie sich unser Bildungssystem verändern muss, um allen Schüler*innen gerecht zu werden
Hannes Schweiger
Abstracts
Mehrsprachigkeit im Habsburgischen Bildungswesen am Beispiel der galizischen Grenzstadt Brody
Dieser Vortrag widmet sich der Mehrsprachigkeit im habsburgischen Bildungswesen im langen 19. Jahrhundert. Der Vortrag wirft einen Mikroblick auf eine Grenzstadt im Nordosten Galiziens - ein österreichisches Kronland, in dem neben Polnisch und Ukrainisch auch Jiddisch und Deutsch eine wichtige Rolle spielten. Brody war jahrzehntelang eine wichtige Handelsstadt und außerdem die jüdischste Stadt der Habsburgermonarchie. Es werden zwei Themen analysiert:
1) Wie misst man ethno-konfessionelle und sprachliche Vielfalt? Dafür werden die örtlichen Volksschulen, die private Israelitische Realschule und das lokale Gymnasium untersucht.
2) Wie ging man historisch mit Vielfalt um? Dafür werden die unterschiedlichen in Brody gewählten Optionen analysiert. Es gab Schulen mit zweisprachigem Unterricht, genauso aber auch welche mit einsprachigem Unterricht bzw. wechselnden Unterrichtssprachen über die Zeit. Weiter wird die Rolle der anderen Landessprachen untersucht. Welche Unterstützungsmaßnahmen gab es für Kinder, deren Muttersprache nicht die Unterrichtssprache war?
Börries Kuzmany
Verankerte und gelebte Mehrsprachigkeit an den Lemberger Gymnasien 1848–1918
Im Mittelpunkt meines Vortrags steht die multinationale und multikonfessionelle Stadt Lemberg, die im 19. Jh. die Hauptstadt des Kronlandes Galizien und Lodomerien war. Als eines der multinationalen Stadtzentren der Monarchie stand Lemberg vor Problemen der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit und der Multinationalität. In seiner sprachlichen Vielfalt waren Polnisch, Deutsch, Ukrainisch (Ruthenisch), Jiddisch, Hebräisch, Armenisch und Kirchenslawisch mit ihren unterschiedlichen Schriftsystemen vertreten. Die politischen Entwicklungen nach der Revolution von 1848 führten zur Steigerung des nationalen Selbstverständnisses unter den Völkern Österreichs. Die einzelnen Nationalsprachen gewannen als Ausdrucksmittel der Gruppenidentität zunehmend an Bedeutung, deshalb gehörte die gesetzliche Verankerung der Gleichberechtigung von Nationalitäten und ihren Sprachen zu den zentralen sprachenpolitischen Aufgaben der Monarchie. Der tatsächliche Umgang mit den landesüblichen Sprachen gestaltete sich jedoch relativ komplex. In meinem Vortrag verfolge ich den Sprachengebrauch in der Lemberger Bildungslandschaft, insbesondere an den Lemberger Gymnasien. Hierbei untersuche ich einerseits, wie die deutsche Sprache zwischen 1850 und 1900 ihre dominante Rolle als Unterrichtssprache verlor. Darüber hinaus wird der Deutschunterricht genauer unter die Lupe genommen. Dabei wird die Frage erörtert, welche Lehrwerke herangezogen wurden und an welchen Sprachnormen man sich dabei orientierte.
Stefaniya Ptashnyk
Ethnographische Perspektiven auf die Entwicklung der zweisprachigen Schule in Kärnten. Vom Minderheitenschulwesen zur Anerkennung sprachlicher Diversität
Im Oktober 2020 wurde das 100-jährige Jubiläum der Abstimmung in Kärnten begangen, das über die Zugehörigkeit des Südkärntner Raums zu Österreich entschied. Das hat nach langen Jahren wieder eine gewisse Aufmerksamkeit auf die Präsenz der slowenischsprachigen Minderheit in Österreich gelenkt. Nur wenigen außerhalb Kärntens ist bekannt, dass es in diesem Bundesland ein Schulwesen gibt, das Bildung vom Kindergarten bis zur Matura nicht nur in deutscher, sondern auch in slowenischer Sprache anbietet. In diesem Vortrag soll ein Einblick in die Entwicklung der slowenisch- bzw. zweisprachigen Schule in Kärnten von der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 18. Jahrhundert bis heute gegeben werden. Dabei wird eine ethnographische Perspektive eingenommen, d. h. diese Entwicklung wird nicht primär anhand von Gesetzen und Verordnungen nachvollzogen, sondern der Versuch unternommen, am Beispiel einer kleinen Landschule den Entwicklungen aus der Sicht der Betroffenen nachzuspüren.
Brigitta Busch
Mehrsprachige Normalität in der einsprachigen Schule: Wie sich unser Bildungssystem verändern muss, um allen Schüler*innen gerecht zu werden
Unsere Gesellschaft ist von Migration und Mehrsprachigkeit geprägt. Dennoch dominiert im österreichischen Schulsystem die Einsprachigkeit, trotz Fremdsprachenunterrichts, trotz eines Curriculums Mehrsprachigkeit, trotz zahlreicher Projekte zur Förderung und Sichtbarmachung vorhandener Mehrsprachigkeit und vor allem trotz der mehrsprachigen Lebenswirklichkeit der Schüler*innen. In dem Vortrag wird die zentrale Frage gestellt, wie sich unser Bildungssystem verändern muss, um dem mehrsprachigen Alltag und den mehrsprachigen Biographien der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden und ihnen zu ermöglichen, die Potentiale ihrer Mehrsprachigkeit zu nutzen. Dabei wird ein besonderer Schwerpunkt auf die Ausbildung zukünftiger Lehrer*innen gelegt. Welchen Anforderungen müssen sie in einer mehrsprachigen Schule gerecht werden und wie können sie darauf in ihrem Studium vorbereitet werden? Es geht einerseits um die Frage nach der Berücksichtigung sprachlicher Bildung in allen Unterrichtsgegenständen und andererseits um die spezifische Förderung der dominanten Schulsprache Deutsch unter Berücksichtigung der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit der Schüler*innen. Die aktuelle Diskussion zu den Deutschförderklassen wird vor dem Hintergrund internationaler Forschungsergebnisse zu Sprach(en)förderung und aus einer machtkritischen Perspektive aufgegriffen.